Vor dem Verfassungsgerichtshof

Corona–Regeln in den Wind geschlagen

Verteidigung will Analyse der Corona-Regeln

Generalstaatsanwaltschaft bleibt hart

Rechtfertigt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit jeden Eingriff in ein anderes Grundrecht? Ohne Zweifel, eine Frage für den Verfassungsgerichtshof. Der Verfassungsgerichtshof ist das höchste Gericht in Luxemburg. Das Gericht achtet darauf, dass die Gesetze in Luxemburg die Regeln unserer Verfassung beachten. Kein Gesetz in Luxemburg darf nämlich gegen unsere Verfassung (Grundgesetz) verstoßen. Der Verfassungsgerichtshof ist unabhängig. Das heißt, dass niemand ihm sagen darf, wie er entscheiden soll. Auch nicht der Großherzog oder die Regierung. Diese Unabhängigkeit ist ganz wichtig in einer Demokratie. Wenn jemand der Meinung ist, dass ein Gesetz gegen die Verfassung verstößt, kann er das prüfen lassen. 

Peter Freitag und Jean-Marie Jacoby, beide Hauptfiguren der Corona-Protestbewegung in Luxemburg, ließen am 10. Juni 2022 ihre Affäre vor dem Verfassungsgericht prüfen. Selbst waren sie nicht anwesend. Beide wurden von ihren Rechtsanwälten vertreten. 

Freitag und Jacoby hatten sich in der Coronapandemie nicht an die Einschränkungen des öffentlichen Lebens gehalten. Weil sie wiederholt gegen die Auferlegung von Maskenpflicht und Distanzregeln, Alkohol und Ausgangssperren verstießen, landeten sie Mitte Januar 2022 vor dem Polizeigericht. Die Staatsanwaltschaft hatte in dem Verfahren die Verurteilung der beiden Männer, zu einer Geldstrafe beantragt. 

Zu ihrer Verteidigung hatten sich die Angeklagten auf das Demonstrationsrecht und auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung berufen. Sie sahen ihre Freiheit nach dem Luxemburger Grundgesetz verletzt. Beide gaben zu Protokoll, dass die von der Regierung auferlegten Regelungen allesamt diskriminierend und verfassungswidrig seien. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schränkten Grundrechte ein, behaupteten sie. Das Gericht sah sich daraufhin verpflichtet, das Verfassungsgericht anzurufen. Der zuständige Richter befasste das Verfassungsgericht mit der Aufgabe, zu klären, ob verschiedene Covid-Maßnahmen der Regierung dem Grundgesetz widersprechen. 

Das Polizeigericht hat dazu vier sogenannte Vorfragen formuliert und an das Verfassungsgericht weitergereicht. Hauptangriffspunkte der Verteidigung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind unter anderem die Auferlegung von Maskenpflicht und Distanzregeln, Alkohol und Ausgangssperren. Verurteilt sind Freitag und Jacoby deshalb bis dato nicht. Das Verfassungsgericht soll nämlich zuerst sorgfältig prüfen, ob die staatlichen Maßnahmen (Corona-Regeln) mit der Verfassung vereinbar sind. Eine diesbezügliche Entscheidung für die Urteilsfindung sei erforderlich, betonten die beiden Rechtsanwälte Me Christian Bock und Me Marc Kohnen.

Belastungsprobe für den Rechtsstaat

Seit der „ersten Welle“ der Coronapandemie (Coronavirus oder COVID-19) im Großherzogtum Luxemburg im Frühjahr 2020 sind viele gerichtliche Entscheidungen gefällt worden. Mit zunehmender Zeit mahnten die gerichtlichen Entscheidungen in Luxemburg sowie in Diekirch jedoch immer wieder zu einer stärkeren Betrachtung des Einzelfalls. Unter dem Strich blieben allerdings die allermeisten Anträge erfolglos, und zwar bis heute. Schätzungen gehen dahin, dass ein sehr hoher Prozentsatz aller Verfahren zugunsten der öffentlichen Hand ausgegangen sind. Letztlich trugen die Gerichte ganz überwiegend freiheitsbeschränkende Maßnahmen dann mit, wenn die durch das Coronavirus ausgelösten Gesundheitsgefahren allgemein als besonders hoch eingeschätzt wurden. 

In seinem Plädoyer sagte der beigeordnete Generalstaatsanwalt John Petry: Zunächst einmal ist es richtig, dass Grundrechte uns nicht nur vor staatlichen Eingriffen schützen, sondern den Staat auch zum Schutz unserer Rechte verpflichten. Alle staatliche Gewalt ist nach unserer Verfassung dazu verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Deshalb muss der Staat die Bevölkerung vor dem Coronavirus schützen und kann das Virus nicht einfach über sie hereinbrechen lassen. Es ist unbestritten, dass das Leben und die körperliche Unversehrtheit sehr hochrangige Schutzgüter sind. Allerdings gilt auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht ohne Einschränkung. Die Verfassung sieht vor, dass „auf Grund eines Gesetzes“ in das Recht auf Leben eingegriffen werden kann. Ebenfalls muss es genau wie alle anderen Grundrechte mit kollidierendem Verfassungsrecht – also insbesondere mit anderen Grundrechten – in einen „schonenden Ausgleich“ gebracht werden. In den Nachbarländern Deutschland und Frankreich hätten die Verfassungsrichter vor kurzem erneut den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont. Der Schutz von Gesundheit und Leben ist ein legitimer Zweck, dessen Verfolgung selbst schwere Eingriffe in die Berufsfreiheit zu rechtfertigen vermag, sagte Petry und erwähnte dabei das Karlsruher Gericht. Damals habe eine „besondere Dringlichkeit“ auch in Luxemburg bestanden, betonte Petry, zum Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems tätig zu werden. Für Petry ist der grundsätzliche Ansatz, den Schutz des Gemeinwohls primär durch Maßnahmen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Warum die Pandemie Luxemburg nicht zu stark in Mitleidenschaft gezogen hat, müsste man die Wissenschaft fragen. Die Regierung wusste nicht, welche Maßnahmen die Pandemie tatsächlich am wirkungsvollsten eindämmen können. Bei so viel Unsicherheit gewährt das Recht der Politik einen großen Beurteilungsspielraum, betonte Petry. Der beigeordnete Generalstaatsanwalt verschwieg auch nicht, dass es besser gewesen wäre, Zahlen zu haben. In einer Situation, wo das Haus brennt, müsse man allerdings sofort handeln, sagte Petry. Grundrechte, welche mit den Regeln kollidierten, hätte die Regierung mit dem Verfassungsrecht in einen „schonenden Ausgleich“ gebracht. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist nicht automatisch „stärker“ als alle anderen Grundrechte, sondern der Staat muss sie stets in einen schonenden Ausgleich bringen. In seinem Schlusswort forderte Petry die Bestrafung der beiden Beschuldigten.

Die beiden Rechtsanwälte Christian Bock und Marc Kohnen sahen das etwas nuancierter: Auch in einer aktuellen Krisensituation gelte die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes. Das bedeutet, dass jeder sich stets gegen freiheitsbeschränkende Maßnahmen gerichtlich zur Wehr setzen kann, also auch gegen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Die Verfassung soll auch in Pandemie Zeiten funktionieren. Die Beschränkungen der Freiheit müssen in sich schlüssig sein, sagte Kohnen. Mit Montesquieu verbindet Me Kohnen das Zitat „Les lois inutiles affaiblissent les lois nécessaires“.

„Maßnahmen sind wegen Verfassungswidrigkeit abzulehnen, weil dem Gesetzgeber sowohl hinsichtlich der Erforderlichkeit als auch der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ein ‚offensichtlicher Beurteilungsfehler‘ unterlaufen ist. Aus parlamentarischen Dokumenten geht hervor, dass Ideen entwickelt wurden, um undefinierte und vage Maßnahmen zu rechtfertigen: ein Zuschlag auf das Gesundheitssystem, was ist das und wann haben wir einen?

Es existieren keine Angaben von Zahlen (Momentaufnahmen), auf die man zurückgreifen könnte, betonten die beiden Rechtsanwälte. Die Erfahrung habe gezeigt, dass sich die Auswirkungen nicht grob messen lassen. Ohne genaues Chiffrieren sind die Zahlen jedoch nicht objektiv, so die Verteidiger. Man wolle mehr Transparenz: Parlamentsdokumente zeigen, dass der Gesetzgeber die gerichtlichen Maßnahmen ohne ernsthafte Prüfung objektiver und quantifizierter Fakten auf der Grundlage eines nachvollziehbaren und transparenten Berechnungsverfahrens entschieden hat: Wie war die Situation in unseren Krankenhäusern? Wie hoch sind unsere nationalen Kapazitäten und wie hoch war die Auslastung unserer Intensivstationen? Diese Zahlen stehen dem Gesundheitswesen seit Beginn der Krise zur Verfügung, laut Ministerialerlass vom 16. März 2020 sollen Krankenhäuser ihm diese Informationen täglich zur Verfügung stellen. Dieser verschlüsselte Sachverhalt wurde dem Parlament nie vorgelegt und beruhte daher auf willkürlichen Spekulationen zum Zeitpunkt der Maßnahmenergreifung und konnte keine wirkliche Einschätzung der Lage, der Notwendigkeit und der Relevanz der Maßnahmen vornehmen“.

Die Frage ist nicht, ob die Maßnahmen konform sind, die Frage ist, ob wir als Gesellschaft garantieren können, dass bei der Gesetzgebungsarbeit unter dem Deckmantel des Notstands gegen Standards verstoßen wird.

In ihrem Schlusswort baten die Verteidiger die Richter um eine genaue Analyse der Situation. 

Das Urteil ist für den 30. September 2022 vorgesehen.