„Das ist ein kalkulierter Verfassungsverstoß“
Anmerkung der Redaktion
Wir danken Herrn Thomas-Michael Seibert und Frau Camilla Hildebrandt für die Erlaubnis folgendes Interview auf unseren Webseiten zu veröffentlichen. Camilla Hildebrandt ist Journalistin bei Deutschlandradio Kultur, Deutschlandfunk und dem WDR. Sie führte das Gespräch für Multipolar. Wir veröffentlichen eine von Herrn Seibert ergänzte und erweiterte Version des Originalinterviews vom 19. November 2021.
Wir freuen uns Beiträge der Webseite von Multipolar auf diese Weise international sichtbarer zu machen. Dies ist unsere zweite Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Multipolar nach dem Brief von Ole Skambraks, den wir nach der Veröffentlichung ins Französische und Englische übersetzt haben.
„Das ist ein kalkulierter Verfassungsverstoß“
Multipolar (Camilla Hildebrandt): Die 3G-, 2G- oder 1G-Regel zum Schutz vor Corona ist Ausschluss und Diskriminierung Ungeimpfter – so sieht es unter anderem auch der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler: „Wenn die Impfung weiterhin freiwillig sein soll, dürfen Impfunwilligen keine Nachteile entstehen, wenn sie sich nicht impfen lassen wollen (…). Entstehen für sie Nachteile, werden sie diskriminiert, und das lässt unsere Verfassung nicht zu.“ Herr Seibert, wie ist die 3G-, 2G- oder sogar 1G-Regel mit unserem Grundgesetz vereinbar?
Seibert: Das ist ein kalkulierter Verfassungsverstoß. Über Verfassungsverstöße muss man immer nachdenken, weil Verfassungen zeitlich und sachlich nach dem Gesetzesrecht entstanden sind und jeweils in ein Verhältnis gesetzt werden müssen zum geltenden Recht. Man kann geltendes Recht verändern, man kann es auch gegen bisher anerkannte Verfassungssätze kalkuliert verändern. Verfassungen sind nicht unwandelbar und gelten nicht ohne die Vermittlung von Gesetzen. Den letzten Versuch, in diesem Fall die Europäische Verfassung zu ändern, hat man hier in Deutschland erlebt, als auf Autobahnen eine Maut eingeführt werden sollte, die alle betreffen sollte, aber für deutsche Staatsbürger zurückgezahlt würde. Das war eine geplante Umgehung von Unionsrecht, wie sie in verschiedenen Bereichen versucht wird, auch im Zivilrecht oder im Strafrecht.
Wenn einem etwas nicht passt, dann versucht man, kalkuliert die Regel als Grundsatz durch eine Ausnahme aufgrund der Lage zu umgehen. Für das Verfassungsrecht behaupte ich, dass es den Grundsatz der körperlichen Unversehrtheit gibt. Das heißt in erster Linie, dass man einer Impfung zustimmen muss. Im Strafrecht ist der Fall überhaupt nicht vorgesehen, und es wird nicht diskutiert, dass man zum Impfen gezwungen werden könnte. Das wäre Körperverletzung. Alle Versuche in diese Richtung sind mühsam, spät und langwierig erfolgt, und es ist bekanntermaßen äußerst schwierig, das Impfen allgemein verbindlich zu machen und als gesetzlichen, für alle geltenden Zwang auszugestalten. Bei der Durchsetzung der Pockenschutzimpfung hat das 200 Jahre gedauert.
Multipolar: Sie sagen, hier gilt das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die 3G-, 2G-, 1G-Regel ist gegen die Verfassung. Wieso wird dann nicht eingegriffen?
Seibert: Weil diese Regeln inzwischen im Bundesgesetz mit den §28a und 28b – das war der letzte Notnagel, die sogenannte Notbremse –, in eine Gesetzesform gekleidet sind.
Und damit fehlt eine grundlegende gerichtliche Entscheidung in der Sache als Anmerkung hinzufügen:
Die erwartete grundlegende Bedeutung und Aussagekraft haben die Beschlüsse des deutschen Bundesverfassungsgerichts v. 30.11.2021 nur insoweit, als sie der Regierung freie Hand lassen. Zu den weiteren
Grundrechtsbeschränkungen durch G-Regelungen steht eine Entscheidung aus. Sie waren zum Zeitpunkt der eingelegten Verfassungsbeschwerden noch gar nicht in Kraft.
Das ist nach meinem Dafürhalten insgesamt ein Grundgesetzverstoß gewesen. Es ist ein Verstoß gegen die Staatsorganisation durch das Seuchengesetz, das seit 1900 im früheren Reich und dann auch im Übrigen in der Bundesrepublik galt, dort erst Anfang der 2000er Jahre umgetauft worden ist und seitdem Infektionsschutzgesetz heißt. Das Seuchengesetz war angelegt auf begrenzte, lokale, für Kranke vorgesehene Maßnahmen. Das, was wir jetzt, und zwar in kürzester Zeit, innerhalb von anderthalb Jahren erlebt haben, ist die Umstellung dieses Gesetzes auf Maßnahmen gegen Gesunde, gegen sogenannte Nichtstörer, die aber krank werden könnten, möglicherweise einen Keim dazu in sich tragen, von dem sie nicht wissen, dass er vorhanden ist, und von dem man ja im Übrigen weder bei einer Impfung noch bei einem Test weiß, ob er nicht doch da sein könnte. Die medizinische Frage bleibt bei all diesen Maßnahmen unbeantwortet. Gerichtliche Entscheidungen zur Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen gibt es erst, wenn sich Kläger oder Antragsteller finden. Die Klagemöglichkeiten sind – und so sollte es auch sein – im April diesen Jahres durch die Einführung des § 28 b Infektionsschutzgesetz bewusst und systematisch erschwert worden.
Multipolar: Inwiefern?
Seibert: Es sind grundsätzlich nicht mehr die Verwaltungsgerichte sachlich zuständig, sondern es müsste die gesetzliche Grundlage selbst angegriffen werden. Das ist im Mai 2021 geschehen mit etwa 430 Verfassungsbeschwerden, die beim Bundesverfassungsgericht anhängig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, zunächst einmal nicht zu entscheiden, weil die Sache schwierig sei. Man beschloss, sie zu vertagen auf einen Zeitpunkt, den wir nicht kennen. Und damit fehlt eine grundlegende gerichtliche Entscheidung in der Sache.
Diese ganzen Maßnahmen sind allenfalls auf der Verhältnismäßigkeits- und Einzelfall-Ebene für konkrete Situationen zu behandeln. Dem ist nur schwierig entgegenzutreten. Man könnte sicherlich sagen: Wenn mir der Zugang zu einem Hotel nicht gestattet wird, weil ich keinen Test oder weil ich keine Impfung vorweise, dann erhebe ich Klage. Das könnte auch eine zivilrechtliche Klage gegen den Hotelbetreiber sein, auf Gewährung des Zugangs. Es gibt in Deutschland eine Tradition und entsprechende Rechtsprechung einer unmittelbaren Geltung von Grundrechten im Vertragsverhältnis, wobei dann die Covid-Ausnahmegesetze mittelbar überprüft werden müssten. Eine solche Klage hat aber nach meinem Wissen niemand erhoben. So wichtig sind diese Sachen für die meisten nicht. Solange ich Umwege zur Befriedigung finde, erhebe ich keine Klage. Im Übrigen könnte man eine Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten erheben. Mir ist über das Schicksal solcher Versuche nichts bekannt.
Multipolar: Was ist mit dem Recht auf Bildung? Das war in der Bundesrepublik Deutschland bis vor Corona ein sehr wichtiges Grund- und Menschenrecht.
Seibert: Für das Recht auf Bildung gilt dasselbe wie für das Recht auf Eigentum. Das Recht auf Bildung ist Bestandteil des Artikel 12 Grundgesetz und gilt als Vorstufe des Rechts auf freie Berufsausübung. Aber nun gilt in diesem Zusammenhang: Jeder wird plötzlich zur Gefahr erklärt. Die bloße Existenz ist eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, weil man Infektionsfaktor sein könnte. Das Recht auf Bildung ist, verfassungsrechtlich gesehen, nicht wichtiger als das Recht auf Eigentum, also etwa das Recht eines Restaurantbetreibers, sein Lokal zu eröffnen für diejenigen, die er dort bewirten kann. Die Studenten und Schüler sind im Übrigen derzeit eine leichte Verfügungsmasse. Dort regt sich kein Protest.
Multipolar: Das heißt, jeder Einzelne könnte klagen?
Seibert: Ja, könnte man. Ich warte darauf, dass es geschieht.
Multipolar: Sie sagen, aktuell wird jeder – vorwiegend jeder Ungeimpfte – als potenzielle Gefahr angesehen. Das sei es, was Sie 2021 als das größte Problem ansehen: die Verpolizeilichung des Rechts. Können Sie das näher erklären?
Seibert: Das führt mitten hinein in die Rechtstheorie und in die Rechtsentwicklung des 20., und erst recht des 21. Jahrhunderts. Das klassische Recht war eingestellt auf Tatbestände und Rechtsfolgen, Rechtsverletzungen und deren Ausgleich, sei es im Wege des Schadensersatzes, im Wege der Bestrafung oder von Maßnahmen, die daran anschließen. Also hätte immer zuerst eine Rechtsverletzung eintreten müssen. Man musste immer darauf warten, dass man überfallen wird, ehe man sagen konnte: Das ist ein Fall des Raubes. Die aktuelle Idee heißt aber: So lange wollen wir nicht warten. Wir wollen schon im Vorfeld unangenehme Ereignisse verhindern.
Der erste große Schub in Richtung auf eine Gefährdungshaftung, in diesem Fall im Strafrecht, erfolgte in den 70er Jahren durch viele Einzelvorschriften, die Terrorismus verhindern sollten und die Vorbereitung verbrecherischer Handlungen. Seitdem kann sich jemand auch dadurch strafbar machen, dass er einem anderen, der als Gefährder polizeibekannt war, für die Nacht ein Bett angeboten hat. Darüber haben Gerichte Beweis erhoben. Das könnte nämlich die Förderung oder sogar Teilnahme an einer terroristischen Vereinigung sein. Und dieser Gefährdungsgedanke dehnt sich nun aus. Er kehrt aktuell wieder als Klimaschutzgedanke, und er taucht – befördert durch die früheren SARS-Epidemien, die zwar am Ende nur lokal waren – auch im Infektionsschutzbereich auch.
Multipolar: Inwiefern ist das Verpolizeilichung?
Seibert: Es gilt: Wir wollen nicht mehr warten. Der preußische Gesetzgeber sagte: Wir brauchen eine Gesetzgebung, die verhindert, dass Kranke ihre Krankheit durch fortlaufenden Verkehr mit anderen auf diese übertragen. Dieser Ansatz wird nun erweitert und über die Gesamtbevölkerung ausgebreitet, indem Nichtstörer den gleichen Maßnahmen – unter Umständen Quarantäne, Betretungsverbot, Kontaktverbot – unterworfen werden. Das ist Verpolizeilichung. Das Polizeirecht ist noch begriffsärmer als das klassische Recht. Es kennt als Zentralbegriffe eben die „Gefahr“, den „Störer“ und hat dafür „Maßnahmen“.
„Verpolizeilichung“ bezeichnet den Prozess der Transformation eines „Rechts der Souveränität“ in den neuzeitlichen Disziplinarapparat, wie M. Foucault beide Tendenzen unterscheidet.1 Grundrechte gehörten ursprünglich der bürgerlichen Souveränität an, sie werden gerade als Disziplinierungsinstrument eingesetzt, wenn die Freiheit der Ungeimpften gegen (wie behauptet: geeignete) Maßnahmen zum Gesundheitsschutz zurückzutreten habe.
Den Prozess der „Verpolizeilichung“ kennen die Critical Legal Studies seit den Beobachtungen von Aaron Cicourel zur polizeilichen Behandlung von Jugendstraftaten, und er ist abzulesen aus den „Two Models of Doctrine“ bei Roberto M. Unger.2
Das kommt uns alles gerade sehr bekannt vor. Konjunktur haben Maßnahmen für die Polizeiverwaltung und den Polizeibeamten, der die Lage im Blick hat und selbständig entscheidet, was angemessen ist. Dagegen anzukommen ist schwierig. Denn was ein erfahrener Polizist für angemessen hält, ist rechtlich auch geeignet. Nun ist das Besondere in der epidemischen Lage von nationaler Tragweite: Es sind gar keine erfahrenen Polizeibeamten mehr tätig, sondern unerfahrene Politiker, die in verhältnismäßig jungen Jahren meinen, nach angeblicher Beratung zu wissen, was man für alle verordnen könnte. Das ist eine hochgefährliche Situation, die eigentlich im Rechtsbetrieb nicht vorgesehen war.
Multipolar: Wieso ist das eine hochgefährliche Situation? Was wäre die Konsequenz beispielsweise für unsere Demokratie?
Seibert: Ich benutze gerade selbst das Wort, gegen das ich Bedenken habe: gefährlich. Gefährlich ist etwas, dessen Voraussetzungen und Folgen man nicht abschätzen kann. Die Gefahr ist möglicherweise gar nicht da. Das Polizeirecht hilft sich und sagt: Dann ist es eine Anscheinsgefahr. Das ist ein netter Begriff für Juristen. Die Begründungslasten werden dabei leichter; sie werden durch flüchtige Begriffe selbst verflüchtigt. Und der Gefahrbegriff ist flüchtig. Gefahren sieht man nicht. Sie können da sein. Sie müssen nicht da sein, sie können sich verwirklichen, man weiß es nicht. Und weil man es nicht weiß, ist es sehr schwer, dagegen zu argumentieren. Der gesamte klassische Argumentationsprozess ist auf die Gefahrensituation nur schwierig übertragbar. Wir sind darauf nicht eingerichtet. Das führt dazu, dass die Gerichte ganz wenig sagen so, wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt: Die Situation könnte gefährlich sein. Wenn wir jetzt sagen, sie sei ungefährlich, dann machen wir vielleicht einen großen Fehler. Also machen wir lieber nicht diesen Fehler, dafür aber andere Fehler, und sagen: Es könnte gefährlich sein.
Multipolar: Was ist also die Gefahr, wenn diese Verpolizeilichung weiter voranschreitet und die potenzielle Gefahr zur weiteren Begründung der Maßnahmen angewendet wird?
Seibert: Es ist nicht mehr voraussehbar, in welchem Bereich welche Beschränkungen auferlegt werden. Die Grundrechte stehen grundsätzlich zur Disposition, was im klassischen Verfassungsdenken gerade verhindert werden sollte. Die Grundrechte waren als individuelle Abwehr staatlicher Gesetzeszumutungen im 19. Jahrhundert gedacht und eingeführt.
Multipolar: Heißt das übersetzt: politische Willkür?
Seibert: Ja, wenn es sich um ein Willkür-Regime handelt, dann ist das jeweils Willkür. Wenn man auf eine liberale Staatsverwaltung vertraut, dann sagt man: Naja, das muss mich ja nicht unbedingt etwas angehen. So etwa wirkt auf mich die mehrheitliche Einstellung zu den 3G-, 2G-, 1G-Regeln.
Multipolar: Im Vorgespräch sagten Sie: Das Recht ist Kostgänger der Macht. Das heißt, die Justiz ist von der Politik abhängig?
Seibert: Nein, das ist leider etwas komplizierter. Politik und Recht sind beide für sich auf Macht angewiesen. Dabei ist Macht verstanden als begründungsloses Folgen. Macht ist ein Medium wie Geld, wo das begründungslose Folgen am einfachsten zu beobachten ist. Man bezahlt, und dafür tun andere, was sie sonst nicht machen würden. Bei der Macht ist es strukturell schwieriger. Die Parole: Der Führer befiehlt, wir folgen – die funktioniert nicht mehr. Aber es funktionieren durchaus die zugrundeliegenden Mechanismen: Ich sage es, und du machst es. Und ich bin nicht verpflichtet, im Einzelnen zu erklären, worauf das gegründet ist. Der Polizist vor Ort muss nicht die Vorschrift im Straßenverkehrsgesetz angeben, um zu erklären, warum er eingreift. Diese Art, mit Macht einzugreifen, folgt aus der Position des jeweils Mächtigen und dem gleichzeitigen Begründungsverzicht.
Das Recht kann sowieso nicht alles begründen. Gewollt ist die Schwierigkeit, eine Handlung, die rechtens sein soll, mit Gesetzen zu begründen. Wenn man die Schwierigkeit der Begründung beseitigt und sagt, es gibt den Gefahren-Begriff, der alles rechtfertigt, dann ist das vielleicht nicht unmittelbar eine Rechtsbeeinträchtigung. Doch es stellt die Entscheidung ins Belieben der Machthaber.
Mit dem Gefahrenbegriff macht man es Juristen in einer solchen Lage einfach; und das haben Juristen und Gerichte auch ganz gerne. Eine Gefahr kann man überall fühlen, und noch schöner ist es, wenn man sagt: Die Wissenschaft sieht die Gefahr, jedenfalls eine bestimmte Art von Wissenschaft. Externe Institutionen liefern sie an, und die Behörden müssen alles nur noch umsetzen. Wenn Recht zum Kostgänger der Macht wird, vereinfacht es die Rechtsanwendung auf einen Reiz-Reaktions-Mechanismus. Den gibt es auch in der Politik. Im Recht soll es ihn eigentlich nicht geben, deshalb gilt der Begründungszwang. Doch in dem Maße, in dem Begründungen den Bedürfnissen der Machthaber angeglichen werden, steht die gewünschte Rechtslegitimation jederzeit zur Verfügung. Die Justizorganisation macht gerne Gebrauch davon.
Multipolar: Trotzdem noch mal zum Verständnis: Was bedeutet genau „Recht ist Kostgänger der Macht“?
Seibert: Man kann der Sache eine anekdotische Wendung geben. Das Bundesverfassungsgericht hat gezeigt, wie abhängig es von der Kost der Macht ist, indem es sich zum Dinner ins Kanzleramt einladen ließ. Dabei hat sein Präsident Vorträge bestellt ausgerechnet zu der Frage, wie man in einer Gefahrenlage unter Ungewissheit reagieren muss – eine rechtstheoretische und philosophische Frage, die jeder Jurist und auch der Präsident selbst beantworten können muss. Das ist natürlich ein peinlicher Fall von Kostgang der Macht. Normalerweise funktioniert das viel subtiler. Richter wie Politiker sind abhängig von denselben Gesellschaftsvorstellungen. Niemand möchte gerne gesagt bekommen: Du bringst jetzt deine Oma um. Dann sagt natürlich jeder Ministerpräsident: Oh, es muss sofort ein Gesetz her, das Omas schützt. Und da man die Omas alleine nicht schützen kann, sagen wir einfach über 60- oder über 70-Jährige. Und wenn das auch nicht möglich ist, dann eben alle. Das scheint doch eine gute Sache zu sein. So lief – kurzfristig und erschreckend – die Entwicklung des ersten Vierteljahres 2020: Das Recht war Kostgänger der Macht. Doch die Macht zieht nach.
Verfassungsrechtler haben von vornherein gesagt: Ihr habt ja gar keine gesetzliche Grundlage für die getroffenen Anordnungen. Das damals noch geltende Infektionsschutzgesetz sah das, was als „erster Lockdown“ praktiziert wurde, nicht vor. Aber das hat zunächst weder den Bundestag noch die Regierung interessiert, und es gab auch keine durchgreifenden Gerichtsentscheidungen dazu. Niemanden hat es gekümmert, dass es ungesetzliches Handeln war, was seit März 2020 in der Bundesrepublik stattgefunden hat. Der schlichte Einwand hätte gelautet, dass den Maßnahmen trotz Verordnung eine gesetzliche Grundlage fehlte. Trotzdem haben am 25. März 2020 alle Bundestagsabgeordneten bei Enthaltung der AfD und der Linken für das Gesetz gestimmt, als es um die Ausrufung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite ging.
Multipolar: Ist der Vorgang vergleichbar mit der Notstandsgesetzgebung der 30er Jahre?
Seibert: Vergleichbar ist er nicht. Ähnlichkeiten kann man aber finden. Was im März 1933 als Ermächtigungsgesetz verabschiedet worden ist, hat Grundrechte ins Belieben eines staatlichen Verordnungsgebers gestellt, wie es im März 2020 auch beschlossen worden ist. Das ist natürlich nicht – deswegen darf das Wort auch unter Juristen nicht erwähnt werden – dasselbe, schon deshalb nicht, weil die handelnden Personen nicht dieselben sind. Man darf allerdings darauf hinweisen, dass die katholischen und liberalen Mitglieder des Reichstags wie auch Theodor Heuss dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben, weil sie natürlich nicht damit rechneten, dass die Beteiligung der NSDAP an einer Regierung den unmittelbaren Weg in den Völkermord und Angriffskrieg bedeutete. Es war den Zeitgenossen im März 1933 nicht klar, was zukünftig geschehen würde. Derzeit ist das auch nicht vorwegzunehmen.
Multipolar: Aber was ist ähnlich?
Seibert: Die Außerkraftsetzung von Grundrechten durch Gesetze, die man aus dem Infektionsschutzgesetz und aus der Figur der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unmittelbar ablesen kann. Sie ist auch beabsichtigt. Das sagt ja das Gesetz selbst. Es soll Grundrechte vielfältig außer Kraft setzen.
Multipolar: Wohin entwickelt sich Ihres Erachtens unsere Gesellschaft aktuell?
Seibert: Sie entwickelt sich hinein in einen neurotisch reagierenden Gefahrenabwehrstaat. Das nächste ist nun der Klimaschutz. Das läuft jetzt latent seit fünf bis zehn Jahren unter dem Titel Klimaschutz, dessen Notwendigkeit man so wenig bestreiten kann, wie die des Gesundheitsschutzes. Man kann nicht bestreiten, dass Corona eine unheilvolle Krankheit ist. Man wird nicht bestreiten, dass die Pole abschmelzen und die Gletscher weniger werden und man das messen kann. Man muss aber sehr wohl darüber streiten, was es mit dem 1,5-Grad-Ziel auf sich hat, welche konkreten Maßnahmen damit verbunden werden und ob es als Ziel überhaupt rational vertretbar ist für einen begrenzten, staatlich-nationalen Bereich.
Diese Diskussion müsste geführt werden; sie kann nicht hinter dem Stichwort 1,5-Grad-Ziel versteckt werden. Die Verfassungsgesetzgebung hat in diesem Fall mit dem Artikel 20 aGrundgesetz reagiert. Aber auch mit dieser Ergänzung muss man darüber nachdenken, welche Ausprägung damit verbunden ist. Der gefeierte Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts ist hochproblematisch, wissenschaftlich anfechtbar und in seiner Auswirkung auf Freiheitseinschränkungen nicht zu übersehen.
Deswegen kann ich auch kaum sagen, in welche Richtung wir uns entwickeln. Die Gefahren kommen auch von denjenigen, die meinen, Gefahren zu verhüten.