Ferngesteuerter Journalismus

Wie sich die Wissenschaftskommunikation ins Vorfeld der Medien verlagert.

Ein Gastbeitrag von Prof.Dr. Stephan Russ-Mohl

Die Wissenschaftskommunikation professionalisiert sich. Sie verlagert sich aber auch immer mehr ins Vorfeld des Journalismus, in die Öffentlichkeitsarbeit. Und der Journalismus wird der Flut von PR-Meldungen, die täglich in die Redaktionen gespült wird, schon lange nicht mehr Herr.

Das lässt sich an zwei Beispielen ermessen: Den ersten Fall  hat der frühere Chefredakteur von Bild der WissenschaftReiner Korbmann, zum „Super-GAU hoch drei“ erkärt [1] – als wäre ein „GAU“, also ein „grösster anzunehmender Unfall“ nicht schon genug und noch beliebig steigerungsfähig. Dabei hatte ein Forscher der Universität Hamburg, der Festkörperphysiker Roland Wiesendanger, nur etwas getan, was Wissenschaftler viel öfter tun sollten: Er hat interdisziplinär gearbeitet und akribisch zusammengetragen, was es an weiterhin widersprüchlichen Erkenntnissen zur Herkunft des Covid19 Virus gibt. Als Summe seiner Erkenntnisse hat er die Hypothese präsentiert, das Virus stamme nicht aus der Natur, sondern sei ein gentechnisches Laborprodukt. 

Das war freilich politisch hochbrisant – auch wenn es den meisten Menschen egal sein dürfte, ob sie von einem Virus angesteckt werden, das von Fledermäusen übertragen wird, oder von einem aus einem chinesischen Forschungslabor. Jedenfalls hat die Pressestelle der Universität Hamburg Wiesendanger, so wie das die meisten Hochschulpressestellen tun, Handlangerdienste bei der Verbreitung seiner Erkenntnisse geleistet, ohne seine Ergebnisse bewerten zu können – und sie hat ihn dabei vermutlich, so ist in der Rückschau festzustellen, nicht gut beraten. Wer das Alltagsgeschäft in der universitären Forschungskommunikation kennt, wird hier eher grauen Alltag als eine Katastrophe feststellen – und den Aufschrei der Entrüstung nicht verstehen, der die Universität Hamburg ereilt hat. 

Wenn es nämlich einen GAU gegeben haben sollte, dann bestünde er darin, dass in den allermeisten Redaktionen seit Jahr und Tag Wissenschaftsjournalisten fehlen, die solch eine Meldung angemessen einordnen können – aber Hand aufs Herz, dieser GAU ist längst veralltäglicht. Der zweite GAU besteht darin, dass viele Redaktionen – auch weil sich in China Auslandskorrespondenten nicht frei bewegen können – ohne weitere Prüfung chinesische Propaganda weiterverbreiten. Sie haben so nicht nur mit Hilfe der WHO, an deren Unabhängigkeit von China man zweifeln darf, die offizielle Lesart zur Herkunft des Virus verbreitet, sondern auch an der Legende gestrickt, China habe Maßstäbe bei der Virusbekämpfung gesetzt. Beides – der Mangel an Wissenschaftsjournalisten in den Redaktionen einhergehend mit Propagandagläubigkeit der Diktatur gegenüber – hat vermutlich auf seine Weise mit dazu beigetragen, dass wir seit Monaten uns von Lockdown zu Lockdown bewegen und keinen Weg mehr herausfinden. 

Das zweite Beispiel hat weniger Furore gemacht, aber es zeigt ebenfalls, was in der Wissenschaftskommunikation schiefläuft. In einer Vorabmeldung wurde avisiert, dass Walter Quattrociocchi, ein international angesehener Forscher, über den „Echokammer-Effekt in sozialen Netzwerken“ neue Erkenntnisse publizieren würde. Die Meldung war mit einer Sperrfrist versehen. 

Vor nicht allzu langer Zeit war ein Forschungsergebnis dagegen einfach „da“, wenn es da war. Es wurde in einer Fachzeitschrift publiziert – basta. Soll heißen, es wurde dort abgelegt, ja beerdigt. Kein Hahn krähte mehr danach. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit interessierte sich außer einer Handvoll weiterer Forscher niemand dafür. Der Zufall entschied dann darüber, ob irgendwann vielleicht doch irgendetwas an eine breitere Öffentlichkeit durchsickerte. Entdeckte ein Journalist, der gelegentlich in einem der damals noch in ihrer Zahl überschaubaren Journals stöberte, die Forschungsarbeit, stand die Chance nicht schlecht, dass er die Erkenntnisse unters Volk bringen würde. Und zwar – sofern es ein Politik- und kein Wissenschaftsjournalist war – als Eigenleistung, ohne Nennung seiner Quelle. Ausführlich beschrieben haben diesen plagiativen Vorgang des „Trickling down“ die Medienforscherinnen Carol Weiss und Eleanor Singer [2] bereits in den 80er Jahren. 

Ob die Professionalisierung der Wissenschaftskommunikation seither wirklich ein Fortschritt ist? Jein. Heute entscheiden Experten für Forschungs-PR darüber, welche Erkenntnisse an die Medien weitergegeben werden – dann, wenn sie in der Aufmerksamkeitsökonomie Resonanz finden und der eigenen Universität zu Reputation verhelfen. Ohne solche Vorarbeit findet kaum ein Forschungsergebnis mehr Aufmerksamkeit in Redaktionen, und deshalb gibt es auch viel zu wenig öffentliche Kritik am Forschungsbetrieb.

Enteignet und der Früchte ihrer mühseligen Arbeit beraubt werden Wissenschaftler gleichwohl weiterhin – denn in der Berichterstattung wird aus der Forschungsarbeit, oft sogar ohne weitere Namensnennung, eine „Studie der Universität XYZ“. Den Namen der Forschenden zu unterschlagen, ist dann die bemerkenswerte Eigenleistung der Redakteure, wenn sie PR-Meldungen mit einem Mausklick adeln und in „Journalismus“ verwandeln. Weitere Fragen stellen sie kaum noch. Und es fehlt ihnen die Zeit, um sich in der heutigen Flut wissenschaftlicher Journals auch nur zu orientieren.  

Der Befund der Forschergruppe um Quattrociocchi  ist inzwischen auf der Plattform PNAS nachzulesen: Wie zu erwarten, haben die Medienforscher herausgefunden, dass bei der Nachrichtenauswahl, welche die Nutzer zu sehen bekommen, Algorithmen polarisierend wirken. Sie tragen also dazu bei, dass sich Echokammern bilden. Dieser Effekt ist bei den Plattformen Facebook and Twitter grösser als bei den kleineren Wettbewerbern Reddit und Gab. Die Forscher haben dazu 100 Millionen Postings untersucht. Das ist fraglos spannend im derzeitigen Diskurs um Facebooks Einfluss auf die gesellschaftliche Spaltung, auf politische Entscheidungen und nicht zuletzt auf Wahlergebnisse. Aber vielleicht doch nicht so weltbewegend, dass es des Tam-tams mit der Vorabmeldung bedurft hätte…Noch überflüssiger war allerdings die GAU-Inszenierung in der Wissenschaftskommunikation, wo es in Wirklichkeit nur um graues Alltagsgeschehen ging.

Stephan Russ-Mohl


http://www.muphovi.com/about

Stephan Russ-Mohl ist emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Universität Lugano und Gründer des European Journalism Observatory. Von ihm zuletzt herausgegeben und 2020 erschienen ist der Band «Streitlust und Streitkunst. Diskurs als Essenz der Demokratie» (Herbert von Halem Verlag, Köln).


[1] Der Super-GAU hoch drei? – Kommunikations-Desaster um den Ursprung des Corona-Virus | Wissenschaft kommuniziert (wordpress.com)

[2] Carol Weiss/Eleanor Singer, Reporting Social Science in the National Media, Russell Sage Foundation, 1988