Impfpflicht in der Geschichte: ja oder nein?

Eine Buchkritik von Michel Decker

In einer Zeit, in der die Regierenden, getrieben von der Weltgesundheitsorganisation, auch WHO genannt, allen Menschen in regelmäßigen Abständen eine Spritze verpassen wollen (auch „Impfung“ genannt), ist es fast ein Glücksfall auf ein Buch zurückgreifen zu können, mit dem Titel „Immunisierte Gesellschaft – Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“.

Veröffentlicht wurde das Buch zuerst 2017, also vor der Coronakrise. Umso erfreulicher ist es, dass die Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland 2021 eine Sonderausgabe herausgebracht hat, dazu noch zu einem sehr niedrigen Preis. Der Autor des Buches, Professor Dr. Malte Thießen, ist Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und außerplanmäßiger Professor für Neuere und neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg/Deutschland. Das Buch entstand, wie zuvor erwähnt, vor Corona, während seiner Juniorprofessur für europäische Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der C. v. Ossietzky Universität Oldenburg. Die Rückseite der neueren Auflage fasst das Buch wie folgt zusammen:

„In der Coronapandemie hat die Immunisierung eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Sie rührt an Grundrechte, Freiheiten, Lebensgewohnheiten, Sicherheit und Planbarkeit und ist somit mehr als ein medizinischer Eingriff, den man für sich befürworten oder ablehnen kann. Die Thematik ist nicht neu: Schon seit im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 die Pocken zur Bedrohung der Zivilgesellschaft wurden, diskutierten, wie der Historiker Malte Thießen in seinem vor der Coronapandemie entstandenen Buch zeigt, Medizin und Politik kontrovers über die Immunisierung oder ihre Verweigerung: Wer soll, kann, darf oder muss wann, mit welchem Ziel und wogegen geimpft werden? Welche Akteure waren in das Impfgeschehen involviert, und welche Machtverhältnisse zwischen Gegnern und Befürwortern des Impfens bestanden im Kaiserreich, aber auch später im Nationalsozialismus und in den beiden deutschen Staaten? Wie und wann verschoben sich die einst prioritären medizinischen Hoffnungen und Erwartungen hin zu Kriterien wie Aufwand und Nutzen, Freiwilligkeit und Zwang des Impfens? Welche Entwicklungslinien und Kontroversen verbinden das Impfgeschehen über Zeit und Raum? An zahlreichen Beispielen zeigt Thießen, wie die Frage nach der Immunität der Gesellschaft einem Aushandlungsprozess zwischen Medizin, Ökonomie und Moral, Sendungsbewusstsein und Selbstbestimmung unterliegt.“

Zum Buch:

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871, in dem Deutschland das Frankreich von Napoleon III vernichtend schlug, führte nicht nur zur Gründung des Deutschen Reiches 1871. Er führte auch, 1874, zu einer reichsweiten Impfpflicht gegen die Pocken (auch Variola; smallpox). Wie konnte es dazu kommen?


„Im Deutsch-Französischen Krieg brachten französische Kriegsgefangene die Pocken ins Reich. Während unter den geimpften preußischen Soldaten allenfalls 300 Menschen den Pocken erlagen, traf es die Zivilbevölkerung sehr viel schlimmer. Bis 1872 zählte man im Reichsgebiet schätzungsweise 150 000 Pockentote. An sich waren Impfprogramme in Deutschland nichts Neues. Anfang des 19. Jahrhunderts hatten Länder wie Bayern, Baden oder Württemberg die Pockenimpfung zur Pflicht erklärt. Und doch brachte das „Reichsimpfschutzgesetz“ (RIG) etwas Neues. Mit seiner Ausrufung erhoben die Deutschen Immunität erstmals zu einem nationalen Projekt – der ‚Vorsorgestaat‘ war geboren.“ Zwischenbemerkung:
Im Gegensatz zu den heutigen genetischen Behandlungen gegen Covid-19 sind (nach Wikipedia) „die Pockenimpfstoffe die ältesten bekannten Impfstoffe. Seit vermutlich etwa 1000 v. Chr. wurden in Indien Variolationen durchgeführt. Die erste gesicherte Dokumentation über Pockenimpfung stammt aus dem Jahr 1549 vom chinesischen Arzt Wan Quan (1499-1582) in seinem Werk Douzhen xinfa.“ Bei dieser Impfung wurden gemahlener Pockenschorf in die Nase der Impflinge geblasen. Die daraus resultierende Immunität senkte die Letalität einer Pockeninfektion von 20 bis 30 % auf unter 2 %. (Zum Vergleich: die Letalität (IFR) von Covid-19 liegt etwa zwischen 0,1 % und 0,5 %.)

Das Buch behandelt folgende vier Schwerpunkte:

  1. Impfen als Kulturgeschichte des Politischen. „In Debatten der Parlamente ging es ja nicht bloß um Impfpflicht und Impfquoten, um Risiko und Sicherheit. Es ging ebenso um die Frage, wer bei diesen Themen überhaupt mitreden durfte. War Vorsorge eine Domäne von Medizinern oder Politikern? Lag die Verantwortung für den „Volkskörper“ beim Reich oder in den Ländern, in den Kommunen oder „ganz unten“ beim Bürger? Verhandelt wurden in der politischen Kommunikation also nicht nur Impfprogramme, sondern das Politische selbst.“
  2. Impfen als Wissensgeschichte. „In dieser Perspektive geht es auch um Irrwege und um das Scheitern der Wissensgenerierung oder kurz: um Wissen als sozialen Konstruktionsprozess. Wissenschaftler produzieren Wahrheiten, indem sie Botschaften und Bilder prägen, die zeitgenössisch Sinn machten und plausibel erschienen. Wissenschaftliche Plausibilisierung und Popularisierung hängen eng miteinander zusammen.
  3. Erforschen und Produktion von Impfstoffen. „Im 19. Jahrhundert war der Siegeszug von Pharmaunternehmen noch nicht abzusehen. Stattdessen machten sich staatliche Impfanstalten an die Produktion. Sie besorgten das ‚Impfgeschäft‘, wie die Herstellung und Verteilung von Impfstoffen genannt wurde, bevor Pharmaunternehmen ab den 1930-er Jahren die Federführung übernahmen.“ Der Autor nimmt auch die Vermarktung in den Blick. „Für eine Normalisierung von Immunität ist die Bedeutung der Werbung kaum zu überschätzen. Während Wissenschaftler lange Zeit in Vorträgen und Aufklärungsschriften an „Volkes Vernunft“ appellierten, gingen Pharmaunternehmen subtiler vor. Sie schürten Ängste, prägten Bilder und Bedrohungsszenarien und weckten, respektive erhöhten Bedürfnisse nach Impfungen. Dass Pharmaunternehmen seit den 1930er-Jahren mit Politik und Presse sowie seit den 1950er-Jahren mit zivilgesellschaftlichen Vereinigungen kooperiert, unterstreicht die Bandbreite eines wirtschafts- und unternehmensgeschichtlichen Ansatzes, der das Verkaufen von Immunität in der Gesellschaft verortet. Impulse bietet die wirtschaftsgeschichtliche Perspektive zudem in transnationaler Hinsicht. Pharmaunternehmen spielten von Beginn an auf der internationalen Bühne. Sie sorgten für den Import ‚ausländischer‘ Produkte und für internationale Austauschbeziehungen.“
  4. Was kam in der Gesellschaft an? „Der Blick auf die soziale Praxis sensibilisiert hingegen für Konflikte, in denen Impfungen verhandelt, verwandelt und verworfen wurden. Gerade wegen ihrer gesamtgesellschaftlichen Tragweite konnten Impfprogramme nicht einfach „von oben“ durchgesetzt werden. Sie wurden ‚vor Ort‘ erprobt und variiert, sie gehorchten lokalen Pfadabhängigkeiten und praktischen Umsetzungsproblemen.“

Der Autor betont noch: „Dieses Buch ist keine Geschichte der Medizin, sondern der Menschen in der Moderne. Es ist die Geschichte eines Zeitalters, in dem die deutsche Gesellschaft ihre Gesundheits- und Sicherheitsvorstellungen verändert hat wie nie zuvor – und damit auch sich selbst.“

Wie aus dieser kurzen Zusammenfassung eines mehr als reichen Buches ersichtlich, kann der Leser viele Gemeinsamkeiten feststellen bezüglich der Ängste und Sorgen vieler Bürger wegen der heutigen Corona-Politik, insbesondere einer Impfpflicht.
Wir erleben gerade, wie ein Großteil der Weltgesellschaft ihre Gesundheits- und Sicherheitsvorstellungen verändert wie nie zuvor – und damit sich selbst.

NB: Alle Zitate, falls nicht anders vermerkt, stammen aus dem Buch „Immunisierte Gesellschaft“ von Prof. Thießen.

Michel Decker