Wissenschaft und Verschwörungen

Expressis-Verbis dankt Herrn Michel Decker für die Bereitstellung seines Artikels, der im November 2021 in der Zeitschrift Kulturissimo /Tageblatt erschienen ist.

Fragestellungen

Eine deutsche Schriftstellerin erzählt uns von ihren Kindheitserinnerungen an die Grundschule. Sie hatte Probleme mit einem Geistlichen, der in einer Welt der Antworten lebte, unsere Autorin als Kind hingegen in einer Welt der Fragen lebte, wie zum Beispiel: „Warum gibt es Krieg?“. Antwort: „Leider gibt es Krieg!“ „Kann Gott den Krieg nicht abschaffen?“ Antwort: „Alle Menschen sind Sünder!“ „Warum hat Gott die Sünde geschaffen?“ „Die Sünde gibt es, weil Eva in den Apfel gebissen hat.“ „Aber Eva war so, wie Gott sie geschaffen hatte.“ „Wenn du nicht aufhörst zu fragen, werfe ich dich raus!“ „Will Gott einen Krieg?“ „Raus!!!“ So endete die Neugier des Mädchens mehr als einmal. Auch in der heutigen Welt der Erwachsenen gibt es viele Fragen, auf die manchmal vorgefertigte und wenig tiefgründige Antworten gegeben werden. „Was ist ein Rechtsstaat?“ Ein Staat, in dem jeder sein Recht bekommt“. „Warum haben wir kein Geld?“ „Weil der Sozialstaat zu teuer ist.“ usw., oder so ähnlich.

Antworten

Wir haben das Gefühl, erneut in einer Zeit zu leben, in der es mehr Antworten als Fragen gibt. Oder wo zumindest das Hinterfragen nicht gefördert wird. Man kann den Eindruck gewinnen, dass auf grundlegende Fragen der menschlichen Gesellschaft vorgefertigte Antworten präsentiert werden, wie zum Beispiel: Da wir auf unserem Planeten Erde ökologische Probleme haben, müssen wir uns darauf vorbereiten, auf einen anderen Planeten zu ziehen. Der Favorit scheint nach Meinung der großen Förderer derzeit der Mars zu sein. Ein anderer aktueller Fall: Wir stellen fest, dass das Leben aufgrund unserer Natur begrenzt ist; daher werden wir diesen Fehler der Evolution beheben und nach und nach die Schwachstellen des menschlichen Körpers ersetzen, um sein Leben zu verlängern. Das Zauberwort heißt hier Transhumanismus. Auf diese Weise kann der Durchschnittsbürger ins Träumen geraten und die drängenden Alltagsprobleme als vernachlässigbare Größe abtun. Was für eine geistige Erhebung, zu vergessen, was uns im Moment hier auf Erden Probleme bereitet, und über unsere zukünftigen Heldentaten im Weltraum zu schwadronieren! Um sich einen Umzug eines Teils der Erdbewohner auf einen anderen Planeten vorzustellen, ist es dringend notwendig, z. B. die Gesetze der Thermodynamik außer Acht zu lassen, aber das ist nur ein Detail. Bei der Lösung des Transhumanismus muss man sich zwischen einem humanistischen oder einem technokratischen Weltmodell entscheiden, wobei sich beide gegenseitig ausschließen. Wenn wir darauf hinweisen, dass diese Pläne nicht von demokratischen Versammlungen, sondern von sehr begrenzten Kreisen der vermögendsten Menschen stammen, nähern wir uns dann schon dem Bereich des Verschwörungstheoretikers? Wer weiß das schon? Das hängt davon ab, wer definiert, was Verschwörungstheorien sind und wie man mit ihnen umgehen sollte.

Philosophie

Laut dem belgischen Philosophen Michel Weber (1963 -) ist die Aufgabe des Philosophen in ihrer Einfachheit sehr problematisch, da wir so tief gesunken sind, dass das Behaupten des Offensichtlichen zur ersten Pflicht der Intellektuellen geworden ist. Das schrieb Orwell bereits 1939. Es geht nicht darum, sich mit Experten anzulegen. Das demokratische Ideal verlangt von jedem, sich frei und argumentativ zu allen politischen Fragen zu äußern, selbst zu den scheinbar labyrinthischen. Die Wiederbelebung des Gemeinsinns erfordert die Wiederbelebung des sozialen Gefüges und all seiner Organe. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass wir derzeit genau das Gegenteil tun. Weber zufolge – aber er ist bei Weitem nicht der einzige – ist die akademische und insbesondere die studentische Welt, die sich lange Zeit durch ihre Fähigkeit zum Dissens ausgezeichnet hat, in letzter Zeit weitgehend in dem abscheulichsten Konformismus ertrunken. Man muss dazu sagen, dass die akademische Welt in diese Situation gezwungen wurde, indem man sie nach den Haushaltskürzungen der jeweiligen Regierungen von nicht-öffentlichen, d. h. privaten Finanzierungen abhängig gemacht hat. Diese Gängelung der akademischen Welt hat eine lange Vorgeschichte. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich daran, dass er als Student an großen Straßendemonstrationen gegen diese Haushaltskürzungen teilgenommen hat, die die Aufgabe eines Teils der universitären Unabhängigkeit ankündigten. Das war 1975/76 in Lüttich; das ist jetzt 45 Jahre her! Heute sind wir so weit, dass internationale Organisationen wie z. B. die Weltgesundheitsorganisation nur noch zu 20 % aus öffentlichen Geldern finanziert werden. Für den Rest wenden Sie sich an die Privatwirtschaft! Die natürlich nach ihren Interessen finanziert.

Und trotz dieser besorgniserregenden Situation der Wissenschaft finden es die Regierenden bequem, politische Entscheidungen zu treffen, die sie mit dem Verweis auf die Wissenschaft rechtfertigen. Dabei vergessen sie, dass Regieren in einer Demokratie ein politisches und kein wissenschaftliches Handwerk ist. In der Tat sind Versuche, auf streng wissenschaftlicher Grundlage zu regieren, in der Vergangenheit gescheitert und haben bittere Erinnerungen hinterlassen. An dieser Stelle ist es nützlich, daran zu erinnern, dass Wissenschaft kein Dogma ist, eine Vorstellung, an die sich viele Menschen über Jahrhunderte hinweg gewöhnt haben. Die Wissenschaft kann im Extremfall immer infrage gestellt werden. Eine wissenschaftliche These kann nicht endgültig als wahr bewiesen werden; sie kann hingegen als falsch bewiesen werden, wenn es Fakten gibt, die der aufgestellten These widersprechen. Dies behauptet der Philosoph Karl Popper mit seinem Falsifizierbarkeitskriterium. Der wissenschaftliche Fortschritt besteht nicht aus einer Anhäufung von Beobachtungen, sondern im Gegenteil durch „die wiederholte Eliminierung wissenschaftlicher Theorien, die durch bessere oder befriedigendere Theorien ersetzt werden“. Das Herzstück von Poppers Sicht der Wissenschaft ist der Irrtum, der ständige Zweifel, der nie verschwiegene, immer gesuchte und immer berichtigte Fehler. Eine (Teil-)Definition, die Popper selbst von Wissenschaft gibt, lautet: Sie ist eine Tätigkeit, die man als „Vorgehen, dessen rationaler Charakter darauf beruht, dass wir aus unseren Fehlern lernen“ betrachten kann. 

Wissenschaft

Es muss also erlaubt sein, wissenschaftliche Theorien ebenso wie sogenannte wissenschaftliche Forschungsergebnisse infrage zu stellen. Anderslautende Meinungen zu zensieren, ist ein Zeichen von Schwäche und ein Eingeständnis des Scheiterns. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass überambitionierte Forscher ihre Ergebnisse geschönt haben. Die Vergangenheit hat auch gezeigt, dass Industriekonzerne die Forschung sabotiert haben, indem sie Wissenschaftler dafür bezahlt haben, Zweifel an der Schädlichkeit von z. B. Asbestzementfasern, Tabak, bestimmten Pestiziden – allesamt krebserregende Stoffe – zu säen. Bei Asbestzement und Tabak wurde der Zweifel fast ein Jahrhundert lang absichtlich kultiviert. Ist es da verwunderlich, dass Menschen sogar hinter Forschungsaktivitäten Verschwörungen sehen, wenn diese von denjenigen finanziert werden, die von den Ergebnissen profitieren? Der Skandal um Dieselmotoren, die manipuliert wurden, aber alle Qualitätskontrollen bestanden, ist nur ein weiteres Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit.

Geheimnisse

Die Dinge werden komplizierter, wenn wir die vertrauten Bereiche des Alltags wie das Dieselauto, Tabak oder Pestizide verlassen. Es gibt nämlich zivile und militärische Forschungsprogramme, die oft geheim sind (das ist eine Besonderheit des Militärs!), primär im Bereich der sogenannten NBICs (Nanotechnologie, Biotechnologie, Informatik, kognitive Wissenschaften). Im Jahr 2002 wurde das Konzept der Konvergenz der NBIC-Technologiebereiche zum ersten Mal in einem fast 500 Seiten umfassenden Bericht erwähnt, der von der amerikanischen National Science Foundation (NSF) herausgegeben wurde. Der Bericht begrüßte die notwendige Annäherung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in den NBIC-Bereichen und gab den Ton für die verschiedenen zivilen und militärischen Forschungs- und Entwicklungsprogramme an, die seitdem durchgeführt wurden.

Die Dynamik dieser Konvergenz lässt sich in einem Schema zusammenfassen, aus dem hervorgeht, dass, wenn die Nanotechnologie Atome manipuliert, die Biotechnologie auf Gene angewendet wird, die Informatik sich auf Bits stützt und die kognitiven Wissenschaften auf biologische Neuronen.

Verschwörungen? 

Da der Normalbürger sicherlich nicht regelmäßig und ausführlich über den Fortschritt dieser Programme informiert wird, ist es nicht verwunderlich, dass Menschen Fragen stellen, ohne dass sie deswegen Anhänger von Verschwörungstheorien sind. Zumal die ganze Welt von einem der besten Experten auf diesem Gebiet, US-Präsident Dwight Eisenhower, in seiner Abschiedsrede als Präsident 1961 vor den Aktivitäten des militärisch-industriellen Komplexes gewarnt wurde. Es wäre gewagt, Eisenhower zu beschuldigen, ein gewöhnlicher Verschwörungstheoretiker zu sein. 

Was viele informierte Menschen beunruhigt, ist das ungebremste Vorantreiben des Transhumanismus durch einige wenige hyperreiche Individuen, deren einzige Sorge es ist, den Zeitpunkt ihres Ausscheidens aus dem Leben hinauszuzögern. Und um auf diesem Weg voranzukommen, brauchen sie Macht, enorme Macht, die es ihnen ermöglicht, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Diese Macht kann durch Lobbyarbeit (das Wort Korruption ist verpönt) und durch die Neuordnung der Strukturen, die das Leben auf dieser Erde organisieren, erlangt werden. Nationalistische Regierungen können bei diesem Vorhaben nur hinderlich sein. Deshalb müssen sich die Strukturen in Richtung einer globalen Regierung entwickeln, die sich nicht mehr um die Wünsche der einen oder anderen Bevölkerung kümmern muss. Die verschiedenen Organisationen, oftmals finanziell gut versorgte Stiftungen, ermöglichen es, die Forschungsbereiche in die gewünschte Richtung zu lenken. Natürlich spielen die beeinflussten Medien eine große Rolle, um sicherzustellen, dass die richtigen Ideen verbreitet werden, auch mithilfe von Bedeutungsänderungen der verwendeten Wörter (ein Phänomen, das von dem Philologen Victor Klemperer beschrieben wurde). Was kann man also tun, um die für die große Mehrheit der Menschen schädlichsten Abweichungen zu vermeiden? Manche meinen, es sei dringend notwendig, ein Wertesystem zu bestimmen und durchzusetzen, das es ermöglicht, Forschungsansätze und -anwendungen zu antizipieren und auszusortieren, um die Maßlosigkeit zu zügeln, alle Verbindungen nicht nur zum Krieg der Menschen untereinander, sondern auch zum Krieg der Menschen gegen die Lebewesen zu kappen und die Menschheit auf eine einvernehmliche Verringerung des globalen Forschungsaufwands und der Ungleichheiten zu verpflichten.

Und wo wir gerade von Verschwörungstheorien sprechen: Man darf vermuten, dass die eigentliche Gefahr von Menschen ausgeht, die beharrlich leugnen, dass es in unseren menschlichen Gesellschaften Verschwörungen gibt.