«Ich glaube nicht, dass wir vor dem Dritten Weltkrieg stehen»

Expressis-Verbis bedankt sich herzlich bei Dr. Daniele Ganser dafür, dass er uns erlaubt hat, dieses spannende Gespräch auf unseren Expressis-Verbis Seiten mit unserer interessierten luxemburgischen Leserschaft zu teilen. Das Gespräch wurde von „Corona-Transition“ geführt und auch dort erstveröffentlicht. Expressis-Verbis hat dieses Gespräch in die französische und englische Sprache übersetzt.

Expressis-Verbis
Dr. Daniele Ganser

Daniele Ganser ist ein Schweizer, Historiker und Friedensforscher und leitet das Swiss Institute for Peace and Energy Research (SIPER). Er untersucht die Themen Frieden, Energie, Medien, Krieg und Terror und will mit seinen Vorträgen und Büchern jene Menschen stärken, die sich für Frieden, gewaltlose Konfliktlösung, erneuerbare Energie und Aufklärung engagieren. Mehr Infos finden Sie auf: https://www.danieleganser.ch

Die Ereignisse in der Ukraine überschlagen sich. Unlängst hat der Kreml die Separatistengebiete Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine anerkannt. Am 24. Februar hat das russische Militär einen großflächigen Angriff auf die Ukraine gestartet. Berichten zufolge sind inzwischen sogar erste russische Einheiten bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Der Historiker Daniele Ganser befasst sich seit Jahren mit dem Ukraine-Konflikt. Gegenüber Corona-Transition gibt der Friedensforscher seine Einschätzung ab.

Corona-Transition: Herr Ganser, Putin spricht davon, die russischsprachige Bevölkerung im Donbass vor einem «Genozid» zu schützen. Der ukrainische Präsident wiederum sieht sein Land bedroht vor einer russischen Invasion. Wie schätzen Sie die gegenwärtige politische Situation ein?

Daniele Ganser: Die Invasion von Russland in die Ukraine ist für mich ein klarer Verstoss gegen das UNO-Gewaltverbot und daher illegal. Aber die Invasion hat eine Vorgeschichte. Die Volksrepubliken Luhansk und Donezk, auch als Donbass bezeichnet, befinden sich seit acht Jahren im Konflikt mit der Regierung in Kiew. Weil es ein bewaffneter Konflikt ist, gibt es Tote auf beiden Seiten. Wir haben also hier schon seit Jahren einen mehr oder weniger stillen Krieg, über den in unseren Medien aber kaum berichtet wurde. Das Thema Corona hat alles andere verdrängt.

Weshalb ist die Situation zuletzt derart eskaliert? 

Eine dramatische Wendung in diesem Konflikt kam, als Russlands Präsident Putin am 21. Februar 2022 die Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannt und zudem erklärt hat, er werde russische Soldaten in die Ostukraine entsenden. Kurz darauf, am 23. Februar, haben diese neuen Staaten Moskau um Hilfe gebeten. Woraufhin am 24. Februar Russland mit Truppen in die Ukraine einmarschiert ist.

Verteidigt Putin legitime russische Sicherheitsinteressen? 

Putin verteidigt sich gegen die NATO-Osterweiterung. Russland ist der Meinung, die Ukraine dürfe auf keinen Fall Mitglied der NATO werden. Das ist die rote Linie für Moskau. Putin hat bei seinem Treffen mit US-Präsident Biden im Juni 2021 in der Schweiz dieses Thema angesprochen. Er hat versucht, von Biden eine schriftliche Garantie zu erhalten, dass die Ukraine nie in die NATO aufgenommen werde. Aber Biden hat das abgelehnt. Nun hat Putin den Weg der Invasion gewählt. Das ist bedauerlich. Wir sollten immer versuchen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Mein Eindruck ist, dass Putin versucht, einen Schachzug der NATO zu kopieren, den diese 1999 im Kosovo angewendet hat: Damals gab es in Serbien Spannungen zwischen der UCK und den Serben. Daraufhin hat die NATO angegriffen und den Kosovo aus Serbien herausgetrennt, so wie jetzt Putin den Donbass aus der Ukraine herausgetrennt hat. Der Internationale Gerichtshof sagte damals zum Kosovo, dass eine einseitige Sezession, also Unabhängigkeitserklärung, vom Völkerrecht gedeckt sei. Putin wird argumentieren, dass der Donbass die Unabhängigkeit ausrufen und Moskau um Hilfe anfordern durfte. Aber die NATO-Staaten, vor allem die USA, sehen das natürlich ganz anders und betonen, dass die Grenzen der Ukraine von Russland nicht verletzt werden dürfen, obschon sie das in Serbien selber getan haben.

Der britische Premier Boris Johnson warnte auf der Münchner Sicherheitskonferenz gegenüber der BBC vor einem Krieg in der Dimension des Zweiten Weltkriegs: Das könnte «wirklich der grösste Krieg in Europa seit 1945 sein», sagte er. Stehen wir am Anfang eines Dritten Weltkrieges?

Nein, ich glaube nicht, dass wir vor dem Dritten Weltkrieg stehen. US-Präsident Biden hat schon gesagt, er werde keine US-Panzer in die Ukraine schicken. Sowohl Washington als auch Moskau wollen eine direkte Konfrontation vermeiden. Denn beides sind Atommächte. Auch die Kubakrise 1962 wurde damals ohne direkte Konfrontation gelöst.

Die ukrainische Regierung hat die diplomatischen Beziehungen mit Russland inzwischen abgebrochen. Der Westen liefert Waffen an die Regierung in Kiew und fordert harte Sanktionen.

Ja, die USA haben die Regierung in Kiew in ihrem Krieg gegen den Donbass seit Jahren mit Waffen und Beratung unterstützt. Die Einmischung der USA in die Politik der Ukraine halte ich für einen schweren Fehler. Wenn Moskau sich in die Politik von Mexiko einmischen und Truppen in Mexiko an der Grenze zu den USA trainieren und bewaffnen würde, wäre Washington auch nicht erfreut.

Wie konnte es überhaupt so weit kommen? 

Die USA haben Russland einst versprochen, es werde keine NATO-Osterweiterung geben. Aber dann haben sie ihr Wort gebrochen. Das war ein erster grosser Fehler. Dann haben die USA im April 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest durchgesetzt, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden sollen. Das war ein zweiter grosser Fehler. Denn beide Länder grenzen an Russland, dadurch wurden die Russen unnötig gereizt.

2014 folgte ein weiteres prägendes Ereignis: Der Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Führte dieses Ereignis erst in die brenzlige Situation, in der wir heute stehen?

Ja, 2014 haben die USA die Janukowitsch-Regierung gestürzt. Das war ein dritter schwerer Fehler, der direkt zu den heutigen Spannungen geführt hat. Heute spricht fast niemand mehr über diesen Putsch der USA, den ich in meinem Buch «Imperium USA» beschreibe. Es ist wichtig, dass wir uns an diesen vergessenen Putsch erinnern. Denn erst nach dem Putsch hat sich die Halbinsel Krim 2014 in einer Abstimmung zu Russland geschlagen, wodurch die Landmasse der Ukraine verkleinert wurde. Und auch der Donbass hat sich abgespalten und erklärte, er werde der Putschregierung nicht gehorchen. Das hat die Landmasse der Ukraine nochmals verkleinert. Die Putschregierung führte danach während acht Jahren einen Krieg gegen den Donbass, was nun zum Einmarsch der Russen geführt hat. Der damalige Putsch wurde durch Scharfschützen ausgelöst, die in Kiew am 20. Februar 2014 sowohl Demonstranten als auch Polizisten erschossen und das Land ins Chaos gestürzt hatten. Präsident Wiktor Janukowytsch und Ministerpräsident Nikolai Asarow mussten zurücktreten. Die USA installierten Arsenij Jazenjuk als neuen Ministerpräsidenten und Petro Poroschenko als neuen Präsidenten. «Es war ein vom Westen gesponserter Putsch, es gibt kaum Zweifel daran», erklärte der gut informierte frühere CIA-Offizier Ray McGovern damals. Meiner Meinung nach war es klar ein Putsch der USA, um die Ukraine in die NATO zu ziehen. Im US-Aussenministerium hatte Victoria Nuland die Fäden gezogen, zusammen mit Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in der Ukraine. Die Telefongespräche zwischen Nuland und Botschafter Pyatt, in denen sie vor dem Putsch die Zusammenstellung der neuen Regierung besprachen, wurden abgehört und erregten Aufsehen, weil Nuland damals mit dem Ausdruck «Fuck the EU» die Europäische Union beleidigt hatte. Aber viele in Westeuropa haben das heute vergessen, weil es schon acht Jahre her ist. Die Russen haben es aber nicht vergessen. Und auch die gestürzten Politiker in der Ukraine wissen, dass das US-Imperium für den Putsch in Kiew verantwortlich war. «Die Amerikaner forcierten erkennbar die konfrontative Entwicklung», erläuterte der gestürzte Ministerpräsident Nikolai Asarow später. Die Anführer der Demonstration auf dem Maidan seien in der US-Botschaft ein und aus gegangen und von dort bezahlt und befehligt worden. Es sei den USA aber nie wirklich um die Ukraine gegangen, so Asarow. Man habe die innerukrainischen Konflikte nur als Hebel in der Auseinandersetzung mit Russland benutzt, um Eurasien zu spalten und dadurch zu schwächen.

Was sollten die westlichen Staaten nun schleunigst tun, um eine weitere Eskalation zu verhindern?

Im UNO-Sicherheitsrat wird es keine Lösung geben, weil die Atommächte USA und Russland beide auch Vetomächte sind. Was es jetzt braucht, ist Deeskalation. Sowohl die Ukrainer wie auch die Russen gehören zur Menschheitsfamilie. Es leben wunderbare Menschen auf beiden Seiten der Gefechtslinie. Der Westen muss einräumen, dass der Putsch von 2014 ein grober Fehler war. Und Russland muss seine Truppen wieder aus der Ukraine abziehen. Die Ukraine sollte erklären, dass sie niemals der NATO beitreten wird. Das könnte für Entspannung sorgen.

Kommen wir zuletzt noch auf die Rolle der Schweiz zu sprechen: Der Bundesrat hat die russische Anerkennung der Separatistengebiete Luhansk und Donetsk verurteilt und spricht von einem «völkerrechtswidrigen» Verhalten. Wie beurteilen Sie die Stellungnahme der Schweizer Regierung? 

Ich halte es für richtig, dass die Schweizer Regierung den Bruch des Völkerrechts kritisiert. Die Invasion von Russland in die Ukraine am 24. Februar ist illegal und ein Verstoss gegen das UNO-Gewaltverbot. Aber als neutrales Land muss die Schweiz immer versuchen, die Anliegen beider Konfliktparteien zu sehen. Auch der Putsch der USA in der Ukraine am 20. Februar 2014 war illegal. Joe Biden war damals Vizepräsident in der Administration von Präsident Barack Obama. Diesen Putsch hat die Schweiz damals nicht verurteilt, weil er im Geheimen geplant und durchgeführt wurde.

Das Interview wurde am 24. Februar 2022 schriftlich geführt.